Die Veröffentlichung der unredigierten Manning-Leaks

5. August 2024 (Artikel) (short link)

Autorin: Janine Römer, 14-Jul-2024, Lizenz: CC0 1.0 (gemeinfrei)

Im November 2010 begannen WikiLeaks und seine internationalen Medienpartner – einschließlich der New York Times [1], The Guardian [2], Der Spiegel [3], Le Monde [4], und El País [5] – Dokumente über die US-Außenpolitik und die Kriege in Afghanistan und im Irak zu veröffentlichen, die angeblich von der Whistleblowerin Chelsea Manning zugespielt wurden.

Wie Herr Assange an den US-Botschafter Louis B. Susman [6] schrieb, wurden diese Dokumente vor ihrer Veröffentlichung einem umfangreichen und innovativen Redigier- und Schadensbegrenzungsprozess unterzogen. Siehe das Defence Skeleton Argument [7] der Verteidigung vom August 2020 sowie die Gerichtsaussagen [8] der Investigativjournalisten John Goetz [9], Nicky Hager [10], und Andy Worthington [11], sowie des Mitbegründers des Iraq Body Count, John Sloboda [12]. Auch die ehemalige Medienpartnerin Stefania Maurizi [13] hat dies in ihrem Buch “Secret Power” (2022/ auf deutsch 2024) dokumentiert.

Wie wurden denn dann die unredigierten Leaks öffentlich?

Als Reaktion auf Denial-of-Service-Angriffe (DoS) gegen die Infrastruktur von WikiLeaks als Vergeltung für die Veröffentlichungen versuchten die Unterstützer / Fans, die Verfügbarkeit ihrer wertvollen Informationen zu schützen, indem sie Kopien an unterschiedlichen Stellen im Netz verteilten und spiegelten. Dazu gehörte auch eine verschlüsselte Kopie der unredigierten Diplomaten-Depeschen. Verschlüsselte Daten können nicht gelesen werden, es sei denn, man hat den Schlüssel/die Passphrase, der/die geheim bleiben sollte. Während des Gerichtsverfahrens zur Auslieferung analysierte Professor Christian Grothoff als Sachverständiger den technischen Aspekt dieser Ereignisse [14,15].

Im Februar 2011 veröffentlichten die Guardian-Journalisten David Leigh und Luke Harding ein Buch [16], das die Passphrase für die unredigierten Diplomaten-Depeschen als Kapiteltitel enthält. In dem Buch wurde allerdings nicht angegeben, wie oder wo die Passphrase zu verwenden ist.

Am 25. August veröffentlichte Steffen Kraft in Der Freitag einen Artikel [17], in dem er auf den Dateinamen der unredigierten Diplomaten-Depeschen und die Offenlegung der Passphrase hinwies. Der Artikel und die Gerichtsaussage des damaligen Chefredakteurs Jakob Augstein [18] bestätigen, dass Herr Assange Herrn Augstein angerufen hatte, um ihn von der Veröffentlichung abzubringen.

Am 26. August riefen Herr Assange und die damalige Redakteurin Sarah Harrison das US-Außenministerium über offizielle Kommunikationskanäle [19] an und warnten, dass die gesamten unredigierten Diplomaten-Depeschen für jedermann online zugänglich seien oder bald sein würden (“nicht wegen uns”). Als der Disponent nicht willens bzw. nicht in der Lage war, sie mit Ministerin Clinton oder einer anderen Person mit Handlungsbefugnis zu verbinden, antwortete Frau Harrison: “Ich verstehe nicht, warum Sie die Dringlichkeit dieser Angelegenheit nicht erkennen.” Ein Teil dieses Gesprächs wurde zu Beginn des 2016/2017 gedrehten Films “Risk” von Laura Poitras gezeigt. Ein Transkript und eine Audiodatei des gesamten Gesprächs wurden ebenfalls von der Assange-Verteidigung veröffentlicht [20].

Am 31. August veröffentlichte der Journalist Nigel Parry ebenfalls einen Blogbeitrag [21] über den Artikel aus Der Freitag, der mehr Details enthielt. John Young von Cryptome [22] veröffentlichte daraufhin am 1. September 2011 eine Kopie der nun entschlüsselten und unredigierten Diplomaten-Depeschen.

Das Defence Skeleton Argument der Verteidigung (S. 56) stellt fest:

The US government knows well (but has withheld from this Court) that the release of unredacted materials on 1 September 2011 was done by others and came about as a result of ‘a series of unforeseeable events’ [Goetz, tab 31, §30-32] outside of the control of Mr Assange or indeed WikiLeaks, and despite Mr Assange’s ‘strong attempts to prevent’ it [Goetz, tab 31, §31].

Der Investigativjournalist Michael Sontheimer schrieb für Heise [23] dass “Assange Quellen verraten habe, gehört gleichwohl zu den Propagandamärchen, mit denen sein Ruf ruiniert werden sollte und die teils immer noch durch die Medien geistern. Dazu gehört auch, dass Assange und WikiLeaks bedenkenlos und ungeprüft riesige Mengen geheimer Dokumente ins Netz geschaufelt haben sollen – was falsch ist.”

Warum hat dann auch WikiLeaks die unredigierten Dokumente veröffentlicht?

Da WikiLeaks nicht in der Lage war, die Veröffentlichung der unredigierten Diplomaten-Depeschen durch Dritte zu verhindern, veröffentlichte es sie selbst als Teil seines durchsuchbaren Archivs am oder um den 2. September 2011. Es gab/gibt Meinungsverschiedenheiten und Kritik an dieser Entscheidung [24,25] unter ihren Medienpartnern, aber Herr Assange hat die Gründe [26] zu der Zeit klar und öffentlich erklärt:

Datenintegrität - Bereitstellung einer “autorisierten” oder authentischen Kopie für den Fall, dass die anderen Kopien auf irgendeine Weise manipuliert worden sind;
Schadensminimierung - Es den Menschen zu erleichtern, herauszufinden, ob sie in dem Material erwähnt wurden, und dann entsprechend zu handeln.

Zum zweiten Punkt ist anzumerken, dass US-Regierungsbeamte wiederholt ein ‘erhebliches Schadensrisiko’ behauptet, aber nie nachgewiesen haben, dass tatsächlich ein Schaden eingetreten ist [27,28]. In der Anklageschrift [29] vom Mai 2019 heißt es, es bestehe “ein ernsthaftes Risiko, dass eine unbefugte Offenlegung die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten beeinträchtigen könnte.” Die US-Staatsanwaltschaft hat jedoch weder im Kriegsgerichtsverfahren gegen Chelsea Manning [30] noch im Auslieferungsverfahren 2020 [31] ein einziges bewiesenes Beispiel vorlegen können. Wir verweisen insbesondere auf die Gerichtserklärung [32] von Professor Mark Feldstein (Seiten 11-25).

Der ehemalige Direktor des US-Geheimdienstes (DNI), James Clapper, sagte gegenüber CNN, er könne sich nicht an einen direkten Beweis erinnern, dass jemandem Schaden zugefügt wurde [33]. Die Richterin des US-Bezirksgerichts Ramona Manglona, die den Vorsitz bei der abschließenden Anhörung (26. Juni 2024) auf der Insel Saipan führte, sagte Berichten [34] zufolge: “Es gibt noch eine weitere wichtige Tatsache: Die Regierung hat angegeben, dass es hier kein persönliches Opfer gibt. Das sagt mir, dass die Verbreitung dieser Informationen nicht zu einem bekannten körperlichen Schaden geführt hat.” In der Tat heißt es im Plea Agreement[35]: “Zum Zeitpunkt des Plea Agreement haben die Vereinigten Staaten kein Opfer identifiziert, das für eine individuelle Wiedergutmachung in Frage kommt, und beantragen daher keine Wiedergutmachungsanordnung.”

[1] https://www.nytimes.com/2010/11/29/world/29cables.html

[2] https://www.theguardian.com/world/2010/nov/28/us-embassy-cable-leak-diplomacy-crisis

[3] https://web.archive.org/web/20101129222728/http://www.spiegel.de/international/

[4] https://www.lemonde.fr/en/international/article/2022/11/28/publishing-isn-t-a-crime-media-outlets-call-to-end-julian-assange-prosecution-for-disclosing-secrets_6005846_4.html

[5] https://english.elpais.com/elpais/2010/12/23/inenglish/1293085243_850210.html

[6] https://www.nytimes.com/interactive/projects/documents/letters-between-wikileaks-and-gov

[7] https://bridgesforfreedom.media/wp-content/uploads/2020/09/200825Julian_Assange_Defence_Skeleton_Argument__part_2.pdf

[8] https://assangedefense.org/hearing-coverage/wikileaks-redaction-process-and-the-unredacted-cables/

[9] https://web.archive.org/web/20210803131828/https://www.tareqhaddad.com/wp-content/uploads/2020/09/2020.09.16-Assange-Extradition-Hearings-Statement-of-John-Goetz.pdf

[10] https://web.archive.org/web/20210803131828/https://www.tareqhaddad.com/wp-content/uploads/2020/09/2020.09.18-Assange-Extradition-Hearings-Statement-of-Nicky-Hager.pdf

[11] https://web.archive.org/web/20210803062246/https://www.tareqhaddad.com/wp-content/uploads/2020/09/2020.09.18-Assange-Extradition-Hearings-Statement-of-Andy-Worthington.pdf

[12] https://web.archive.org/web/20210803131828/https://www.tareqhaddad.com/wp-content/uploads/2020/09/2020.09.17-Assange-Extradition-Hearings-Statement-of-John-Slodoba.pdf